Schorske: der Begründer des Fachs

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Schorske Fin de siecle book cover

Dies ist das Buch, mit dem alles begann: Es war der Beginn einer Industrie von Schriftstellern und Wissenschaftlern, die herauszufinden versuchten, warum Wien um die Jahrhundertwende eine Brutstätte war, in der der Modernismus, Kunst, Wissenschaft, Architektur, Musik, Psychologie und Literatur florierte. Egal, was man unter „Modernismus“ versteht, egal wie der Beginn und das Ende dieser Periode festgelegt werden, eine große Bewegung war im Gange.

Es wäre falsch zu behaupten, dass niemand bemerkte, welche besondere, wenn auch unruhige Ära Wien in den letzten Tagen des Habsburgerreiches sowie in den Zwischenkriegsjahren, erlebt hat. Schriftsteller wie Stefan Zweig blickten zurück und schrieben davon ihre Erinnerungen auf. Schorske war der erste in der akademischen Welt, der sich mit dem Thema beschäftigte und versuchte zu erklären, warum diese Zeit in Wien so fruchtbar war. Dieser Versuch war der Anlass des im Jahr 1979 erschienenen Buches, das aus sieben Aufsätzen besteht, davon er vier bereits ab 1961 veröffentlicht hat.

In seiner Einleitung räumt er ein, dass die akademischen Strömungen der Kulturgeschichte nicht gerade wohlgesonnen waren. Er sagt dies in einer ziemlich komplizierten Sprache, die ein ansonsten positiver Amazon-Rezensent als „hifalutin gobbledygook“ bezeichnete, eine Sprache, die zweifellos dazu diente, sein unkonventionelles Werk sich den amerikanischen Akademikerkollegen zu empfehlen. Aufgrund der konzeptionellen Schwierigkeiten, die er beim Schreiben jeder Kulturgeschichte sieht, versucht er das Thema indirekt zu beleuchten, indem er sieben Essays sammelt, die sich mit einer Auswahl der wichtigsten Persönlichkeiten der Zeit beschäftigen.


Schorske arbeitete in einem amerikanischen Umfeld, obwohl er deutschsprachig war und in seinen 100 Jahren nie in Wien oder Österreich gelebt oder gearbeitet hat. Es ist kein Zufall, dass man den Eindruck hat, dass er Freud als den herausragendsten Vertreter dieser Periode betrachtet, denn er arbeitete in einer Welt, in der Freud, oder vielmehr eine amerikanische Darstellung von Freud, herrscht. Schorske bringt Freuds Traumdeutung mit seinen Schwierigkeiten in der akademischen Politik und mit dem Antisemitismus zusammen, und deutet die ödipalen Träume in politischer Hinsicht neu. Er überlagert seine Darstellung von Freud mit seiner eigenen analytischen Interpretation, die vielleicht in seiner psychoanalytischen Generation vertretbar und nicht ganz unhaltbar erscheint, aber ohnehin als einzigartig vorkommt.

Das Kapitel über Freud veranschaulicht eine Schwierigkeit von Schorskes Werk: In seiner Einleitung geht er zwar auf den geselligen Charakter der Wiener Kulturelite ein, aber er entwickelt den sozialen Aspekt seiner Themen nicht. Im Fall von Freud hätte er seine sozialen Beziehungen, Freunde und Feinde und Patienten erzählt können. Vielmehr konzentriert er sich auf das Innenleben Freuds.

Als Reaktion auf die Schorskes Darstellung des Wiens der Jahrhundertwende, sind wissenschaftliche Abhandlungen und Bücher geschrieben worden, die weit über meine wenigen flüchtigen Reaktionen hinausgehen. Die Ehrungen, die ihm in Österreich zuteilwurden, spiegeln nicht so sehr eine Fähigkeit wider, seine Epoche gut oder fair zu beschreiben, sondern in der ersten Linie, dass er dieses faszinierende Thema auf die Landkarte gebracht hatte. Obwohl er kein Wiener war, sondern ein außenseitiger Beobachter der Geschichte der Stadt, hat er ein wichtiges Gespräch begonnen, das noch nicht beendet ist.


 

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